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Liesel Groth
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Das Wasser kommt
 
„Vater, Vater !“
Peter rief es immer und immer wieder. Er war eigentlich ein mutiger Junge, Angst war für ihn ein Begriff, den er mit seinen 11 Jahren nicht definieren konnte. So schnell war er nicht einzuschüchtern. In den meisten Fällen ging er draufgängerisch auf die Gefahr zu und kümmerte sich nicht weiter um die Folgen.
Aber das, was hier geschah, jagte ihm doch Schauer über den Rücken. Die Elbe, sonst seine beste Freundin, hatte ihn in diese Situation gebracht. Solange er auf der Welt war und denken konnte, liebte er diesen großen Fluss, an dem er geboren wurde, der an seinem Elternhaus vorbei floss, dessen Wellen Tag und Nacht mur­melten und plätscherten, liebte ihn wie einen Freund, mit dem man sich Geschichten erzählen, dem man seine Geheimnisse anvertrauen konnte. Immer war die Elbe ausgeglichen und ruhig dahin geflossen, hatte mit ihrer immerwährenden Gleichförmigkeit oft Peters Wildheit gezügelt und ihn veranlasst, sich erst einmal an ihrem Ufer niederzulassen und zur Besinnung zu kommen, wenn sein Heißsporn ihn in gefährliche Situa­tionen gebracht oder wenn er etwas ausgefressen hatte. Immer hatte das Murmeln der Wellen ihn beruhigt, hatte der große Strom einen Zauber auf ihn ausgeübt. Sie waren gute Freunde, Peter und die Elbe.
Aber heute verstand er sie nicht mehr. Seit Tagen war aus dem ruhig dahin fließenden Fluss ein reißender Strom geworden, seit Tagen stieg das Wasser, stieg und stieg und Peter war wütend, dass er diesem heftigen Ansteigen nichts entgegensetzen konnte. Der Vater hatte ihm gestern noch erklärt, dass das Hochwasser der Elbe von den auftauenden Schneemassen der Gebirge herrühre, er hatte Peter vor dem reißenden Fluss ge­warnt. Doch Peter konnte sich nicht denken, dass seine geliebte Elbe ihm irgendetwas Böses antun würde.
Heute Morgen nun, als der Vater zur Arbeit musste, hatte er Peter geweckt. Sie waren auf den Hof gegangen, da hatte Peter einen furchtbaren Schreck bekommen. Das Wasser umspülte bereits den Stamm des großen Birnbaums in ihrem kleinen Garten. Das hatte Peter noch nie erlebt. Hinter dem Garten ihres kleinen Anwe­sens in der Barbyer Straße lagen doch noch die großen Elbwiesen, der Weg, der hinab zum Elbufer führte, alles war unter Wasser. Der Vater hatte ihm gesagt, das Wasser würde weiter steigen, bring alles Wichtige auf den Boden, Junge. Dann war er in größter Eile zur Arbeit gegangen. Der Vater arbeitete als Sieder in der Saline, die ebenfalls direkt am Fluss lag. Er durfte nicht zu spät kommen, es galt auch hier, alles vor dem Hochwasser zu schützen und zu sichern.
Peter war dann allein im Haus geblieben, nur Strolch, der Spitz, war bei ihm und Pussy, die gefleckte Katze. Zunächst hatte er Minchen gefüttert, das war die Ziege der Familie Morgenstern, hatte ihr Heu gebracht und sie gemolken. Grünfutter gab es jetzt im Februar nicht, auf den großen Wiesen lag noch Schnee, dass heißt, jetzt war dort Wasser. Wieder war Peter zum Garten gegangen und hatte den Garten beobachtet. Das Wasser war schon wieder gestiegen. Der Birnbaum stand schon im Wasser. Die Wellen gurgelten und leckten, und Peter Morgenstern hatte Angst bekommen. ........

Dann hatte er überlegt: Was würde die Mutter jetzt tun.
Ach, die Mutter fehlte ihm so sehr. Warum musste sie ihn an einem solchen Tag allein lassen. Sie hätte jetzt Rat gewusst. Aber sie war bei Großmutter Bertchen. Peter sollte ein Geschwisterchen bekommen und aus die­sem Grund weilte die Mutter bei den Großeltern. Ach, er pfiff heute auf alle Geschwister, wenn nur die Mut­ter dagewesen wäre. Entschlossen hatte er die große Mistgabel ergriffen und damit begonnen, rund um das Häuschen Mist aufzutürmen. Von seinem Onkel Gustav hatte Peter einmal so etwas gehört, dass man bei Überschwemmungen die Türen mit Mist sichern sollte, dagegen käme das Wasser nicht an. Im Schweiße sei­nes Angesichts hatte sich Peter mit dem Mist abgeplagt, hatte einen kleinen Wall am Haus entlang aufge­schichtet und gegen die Türen und Kellerfenster gedrückt. Dann war er zum Küchenfenster herein geklettert und hatte alles dicht verschlossen. Mutters Geldkassette und den Brotkasten hatte er noch auf den Boden ge­bracht und dann das Bodenfenster geöffnet. Da war er zurückgeprallt, soweit er sehen konnte nur Wasser, Wasser, Wasser. Wütend und gurgelnd zog die Elbe dahin. Das eigentliche Flussbett war gar nicht mehr zu sehen, nur an einzelnen Büschen und Bäumen, die aus dem Wasser ragten, konnte man noch die alten Ufer erkennen.........

Auf den Nachbargrundstücken wurde es jetzt lebendig. Es war Feierabendzeit und die Leute kamen von der Arbeit. Erst jetzt konnten sie sich um ihr eigenes Hab und Gut kümmern. Da sah Peter einen Fischerkahn auf das Haus zusteuern.
„Peter, Peter, ich komme !“
Es war der Vater. Peter liefen jetzt doch die Tränen übers Gesicht. Julius Morgenstern machte den Kahn fest und stieg zum Küchenfenster hinein, die Scheiben waren bereits zertrümmert. Er lief die Bodentreppe hinauf und nahm Peter in die Arme.
„Das hast du gut gemacht mein Junge! Aber schnell, wir müssen hier weg. Das Wasser steigt noch weiter.“
Er riss leere Säcke aus dem Spind, stopfte die Karnickel hinein, in einen zweiten Sack die Hühner. Peter hatte Minchen die Leine umgelegt und stand auf der Bodentreppe.
„Hol noch etwas Wäsche, Peter“. Sie stopften alles in einen Sack und der Vater verstaute es im Boot. Dann stakte er um das Haus herum zur Haustür.
„Peter, versuch Minchen durch den Türspalt zu schieben, sie muss ins Boot.“ Minchen meckerte und scheute, aber schließlich hatten sie es doch geschafft. Alles war im Boot verstaut. Peter liefen die dicken Tränen übers Gesicht als sie davon ruderten, das kleine Häuschen sah nur noch zur Hälfte aus dem Wasser. Die Barbyer Straße war bereits überflutet. Sie ruderten hinter den Häusern entlang. Überall retteten die Leute, was noch zu retten war. Viele hatten die Waschfässer voll Hausrat geladen und fuhren damit in Richtung Stadt.
Peter hatte sich in eine Wolldecke gewickelt und Pussy auf dem Arm. Er sah die Verwüstung des Wassers, viele Schuppen waren schon eingestürzt. Es wurde bereits dunkel.
„Peter, beweg dich ein bisschen, schlag mit den Armen, damit du warm wirst !“
Julius Morgenstern machte sich Sorgen um seinen Sohn, Peter zitterte am ganzen Körper. Sie kamen jetzt durch das Barbyer Tor, auch der Breite Weg stand unter Wasser. In der zunehmenden Dunkelheit sah Peter den Salzturm aufragen. Hinter dem Salztor wurde das Wasser flacher, endlich hatte der Kahn Grund. Der Vater sprang heraus.
„Peter, steh auf, wir gehen zu Onkel Paule, dort bekommst du trockene Sachen. Minchen muss mit!“
Minchen meckerte kläglich. Jule Morgenstern belud sich mit den zappelnden Säcken. Den Kahn hatte er an einer Laterne festgemacht. Ringsherum brodelte es von Flüchtenden, die Menschen schrien und weinten.
„Komm Peter, hier herum.“ Sie bogen in die Kaiserstraße ein. Peter versuchte mit Gewalt, die aufgeschreckte Ziege durch die quirlenden Menschenmassen zu bugsieren. In der Kaiserstraße wohnte Vaters Kumpel von der Saline Paul Schneidewind. Das Ehepaar bewohnte hier eine kleine blitzsaubere Wohnung, sie hatten keine Kinder und daher vielleicht etwas Platz.......

Jule Morgenstern machte sich auf den Weg zu Bornemanns. Es waren die Eltern seiner Frau, sie hatten in der Friedrichstraße eine kleine Bäckerei. Er war froh, dass er Luise schon vor Tagen dort einlogiert hatte. Sie warteten täglich auf ihr zweites Kind.
Die Stadt war belebt. In allen Straßen traf er auf Flüchtlinge, die bestrebt waren, ihr bisschen Habe zu bergen.
Bei Bornemanns war alles in heller Aufregung. Als Jule auf den Hof kam, lachte Friedrich Bornemann über das ganze Gesicht:
„Da ist er doch ! Jule, du hast eine Tochter bekommen, geh man rein. Die Frauensleute sind reinweg durch­einander.“ Als er ins Schlafzimmer kam, hörte er die kleine Gertraude im Körbchen schon greinen. Seine Frau sah ihn mit großen Augen an.
„Jule, was ist mit dem Haus ?“
„Luischen, wir haben nun ein kleines Mädchen, ist denn alles in Ordnung ?“
Sie nickte. „Heute Morgen ist es geboren.“
Er setzte sich auf den Bettrand und küsste sie. Dann blickte er in das Körbchen, ein kleines Wesen mit blon­den Härchen lag darin. Ein Glücksgefühl durchströmte ihn, trotz aller Schrecken dieses Tages.
Es war wirklicher ein ereignisreicher Tag, dieser 22. Februar 1876, sie würden ihn nie im Leben vergessen.